zum Inhalt springen
Rückblick auf den soziologischen Aschermittwoch an der Universität zu Köln

Spannender Richtungsstreit in der Soziologie

Am 6. März 2019 fand der erste „soziologische Aschermittwoch“ an der Universität zu Köln statt. Bezugspunkt dieser öffentlichen Diskussionsveranstaltung war die aktuelle Auseinandersetzung um die zukünftige Ausrichtung der Soziologie und den Umgang mit der dieses Fach kennzeichnenden Vielfalt an Ansätzen, Methoden und Wissenschaftsverständnissen.
Der von Professor Clemens Kroneberg (Institut für Soziologie und Sozialpsychologie) und der Hochschulgruppe Sozialwissenschaften organisierte soziologische Aschermittwoch brachte bekannte Fachvertreter*innen nach Köln. Es ergab sich eine lebendige Diskussion, die im Video festgehalten wurde. Professor Kroneberg ordnet für uns im folgenden Interview die Diskussion ein.

Interview mit Clemens Kroneberg

Professor Kroneberg, am 6. März fand in Köln der erste soziologische Aschermittwoch statt. Wie zufrieden sind Sie mit der Veranstaltung?

Gemessen an der Besucherzahl und auch dem großen Interesse an der Videoaufzeichnung war es ein voller Erfolg. Für alle, die den Weg nach Köln auf sich genommen haben, war es sicherlich auch ein unterhaltsamer Abend mit viel Anregungspotential für weitere Diskussionen. Das konnte man auch beim anschließenden Empfang sehen.

Wie bewerten Sie die inhaltliche Diskussion?

Ich denke die Veranstaltung war hilfreich, um die grundlegenden Differenzen, aber auch die wechselseitigen Vorbehalte und die aktuelle Emotionalität dieser Auseinandersetzung zu dokumentieren. Das ist ein guter Referenzpunkt, um Fortschritte in der Diskussion in den nächsten Jahren zu bemessen. Persönlich hätte ich mir noch mehr inhaltliche Klärungen gewünscht, aber vor dem Hintergrund der Vorgeschichte und der Komplexität der Gemengelage war diese Erwartung wohl etwas naiv. Eine sachliche Diskussion anhand konkreter Forschungsbeispiele war in dieser Konstellation kaum zu realisieren. Das wäre in etwa so, als würde man nach einem eskalierten Familienkonflikt verlangen, man solle in sachlicher Distanz darüber diskutieren, was gutes Familienleben ausmacht. Aber ich bin den Diskutanten sehr dankbar für den offenen Austausch und auch für die eine oder andere Pointierung. Nicht zuletzt konnten wir so wirklich das halten, was wir versprochen hatten: Es war ein soziologischer Aschermittwoch.

Welche Erkenntnisse haben Sie persönlich durch die Veranstaltung mitgenommen?

Es wurde deutlich, wie unterschiedlich die Grundorientierungen innerhalb der Soziologie sind und dass sich diese Vielfalt nicht einfach auf einen Konflikt zwischen der etablierten „Deutschen Gesellschaft für Soziologie“ (DGS) und der 2017 gegründeten „Akademie für Soziologie“ reduzieren lässt. Es ist auch nicht nur ein wieder aufgeflammter Methodenstreit zwischen qualitativer und quantitativer Sozialforschung, auch wenn diese Konfliktlinie mit der organisatorischen ein Stück weit überlappt. Die von Stephan Lessenich artikulierte Position einer stärker politischen Soziologie wurde beispielsweise auch von Vertretern, die der DGS nahe stehen, kritisch kommentiert.

Den politischen Hintergrund von Forschungssträngen und Fragestellungen zu reflektieren, ist sicherlich wichtig.

Prof. Clemens Kroneberg

Was genau war die Kritik gegenüber der stärker politischen Soziologie?    

Es ging hier um die These, jede Sozial- und Wirtschaftswissenschaft sei von vornherein immer schon eine Positionierung im gesellschaftlichen und politischen Diskurs. Die Vorstellung einer wertfreien Wissenschaft sei daher eine Illusion und würde dadurch tendenziell eher die gesellschaftspolitisch dominierenden Kräfte unterstützen. Wenn man z.B. als Soziologin untersucht, warum Arbeiterkinder immer noch niedrigere Chancen haben zu studieren, übernimmt man mit dieser Fragestellung implizit die u.a. von der OECD vertretene Vorstellung, eine noch weitere Bildungsexpansion im tertiären Bereich sei unbedingt wünschenswert. Sich dessen bewusst zu sein und den politischen Hintergrund von Forschungssträngen und Fragestellungen zu reflektieren, ist sicherlich wichtig. Kritisiert wurde jedoch, dass dies für die eigentliche Forschungspraxis – also ergebnisoffen und methodisch kontrolliert zu forschen – letztlich keinen Unterschied macht bzw. machen darf. Gerade da für die Wahl von Forschungsthemen teilweise auch politische Überzeugungen von Forscherinnen relevant sind, ist es umso wichtiger, in Bezug auf die Forschungspraxis das Ideal der Wertfreiheit hoch zu halten.

Worum geht es bei dem Konflikt um die „Akademie für Soziologie“ im Kern?

Mit der Akademie-Gründung waren und sind natürlich heterogene Zielsetzungen verbunden.  So wie es in jedem Verband, auch innerhalb der DGS, unterschiedliche Meinungen über Verbandspolitik gibt. Es geht m.E. aber darum, dass ein Teil der Soziologie einem gemeinsamen Wissenschaftsverständnis folgt, wie es auch in einigen Nachbardisziplinen, etwa der Ökonomie und Psychologie, zu Grunde gelegt wird. Man möchte „Rezeptwissen“ über die soziale Welt gewinnen, also informationshaltige Kausalaussagen, die möglichst aussagekräftigen und kontrollierten empirischen Prüfungen Stand halten. Auf dem soziologischen Aschermittwoch hat etwa Stefan Hirschauer zu Recht betont, dass die DGS deutlich pluralistischer ist. Sie beheimatet Soziologinnen und Soziologen mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen darüber, was „Wissenschaft“, „Theorie“, eine relevante Fragestellung oder empirische Evidenz ausmacht.


Ist das eine Schwäche oder eine Stärke des Faches?

Beides. Aus Sicht der Akademie ist es insofern eine Schwäche, als der Dissens über Grundsätzliches verhindert, dass man das vertretene Ideal einer Wissenschaft realisiert, die im Normalmodus inkrementell Wissensbestände aufbaut und kausale Theorien in engem Dialog mit methodisch kontrollierter empirischer Forschung weiter entwickelt.
Diese Vorstellung von Soziologie nimmt notwendiger Weise Anstoß an dem spekulativen und zuspitzenden Element essayistischer Zeitdiagnosen, an politisch engagierter Soziologie, die sich als wissenschaftlicher Teil sozialer Bewegungen versteht, oder an derjenigen Art qualitativer Forschung, welche Objektivität und Replizierbarkeit nicht einmal als regulative Ideen anerkennt. Thomas Hinz, der aktuelle Vorsitzende der Akademie, hat auf dem soziologischen Aschermittwoch auch das Entfremden zum Ausdruck gebracht, das entstand, wenn auf DGS-Kongressen die Art von empirisch-analytischer Wissenschaft, die etwa in der Psychologie und Ökonomie eindeutig den Ton angibt, in den Plenarveranstaltungen nur selten wiederzufinden ist – obwohl sie in führenden internationalen Fachzeitschriften dominiert.

Im besten Falle steigert die Auseinandersetzung oder zumindest die Kenntnisnahme dieser grundlegend anderen Auffassungen das Reflexionsniveau der eigenen wissenschaftlichen Praxis.

Prof. Clemens Kroneberg

Und inwieweit liegt im Pluralismus in der Soziologie auch eine Stärke?

Im besten Falle steigert die Auseinandersetzung oder zumindest die Kenntnisnahme dieser grundlegend anderen Auffassungen das Reflexionsniveau der eigenen wissenschaftlichen Praxis. In anderen empirisch-analytischen Wissenschaften gibt es das so nicht und diese laufen daher eher Gefahr, sich inkrementell-kumulativ und empirisch kontrolliert in Sackgassen zu verrennen, sich für bestimmte politische oder gesellschaftliche Zielsetzungen instrumentalisieren zu lassen, usw. Auch macht diese Pluralität die Soziologie – je nach Ausrichtung – zu einem potentiell interessanten Gesprächspartner für sehr unterschiedliche Nachbardisziplinen – sei es Ökonomie, Psychologie und Informatik oder aber eher geistes- und kulturwissenschaftliche Disziplinen.
Mit der Gründung der „Akademie für Soziologie“ versucht ein Teil des Faches, öffentlich noch sichtbarer und einflussreicher zu werden. Die dadurch geschaffene Konkurrenzsituation kann aber durchaus auch positive Nebeneffekte haben: Man beäugt sich stärker als in Zeiten, in denen solch Unterschiede weniger institutionalisiert waren. Das steigert die Aktivitäten etwa in der Öffentlichkeitsarbeit und es könnte auch dazu führen, dass innerhalb und zwischen den verschiedenen Richtungen produktive Diskussionen angestoßen werden, etwa über Gütekriterien empirischer Forschung, Replizierbarkeit oder politische Relevanz und Implikationen soziologischer Fragestellungen.

Für Studierende bleibt die Soziologie aber sicherlich auch gerade dadurch faszinierend, dass man hier noch grundlegende Fragen stellt.

Prof. Clemens Kroneberg

Sie sehen also durchaus auch ein integratives Potential dieser Auseinandersetzung?

Ja. Auf dem soziologischen Aschermittwoch wurde zwar teilweise der Vorwurf der „Abspaltung“ laut, aber dieses Bild wurde nicht nur von Vertretern der Akademie zurückgewiesen. Auch dies war klärend. Es gibt nun einfach eine weitere Organisation neben der altehrwürdigen Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Diese Neugründung war wohlgemerkt auch nicht mit einem kollektiven Austritt aus der DGS verbunden. Vielmehr sind viele Mitglieder der Akademie – so wie übrigens auch ich –  gleichzeitig Mitglied in der DGS oder organisieren sogar wissenschaftliche Veranstaltungen unter doppelter Beflaggung.
Dass die Akademie nicht „Verein für standardisierte Sozialforschung“ heißt, sondern „Akademie für Soziologie“ bringt m.E. zum Ausdruck, dass man das eigene Wissenschaftsideal nicht nur als eine gleichwertige Spielart unter anderen ansieht, sondern den Anspruch erhebt, dass Soziologie als „Wissenschaft von der Gesellschaft“ genau so betrieben werden sollte. Solche starken Überzeugungen gibt es auch in anderen Teilen des Faches, man denke etwa an Niklas Luhmanns Systemtheorie. Das ist notwendiger Weise eine Provokation für andere Denkrichtungen und erklärt auch die teils heftigen Gegenreden am soziologischen Aschermittwoch. Letztlich wird der Erfolg – wie auch bislang – davon abhängen, für welches Projekt einer „Wissenschaft von der Gesellschaft“ und für welche Erkenntnisse man Studierende und Öffentlichkeit am stärksten begeistern kann.
Für Studierende bleibt die Soziologie aber sicherlich auch gerade dadurch faszinierend, dass man hier noch grundlegende Fragen stellt und nicht mit dem Einschreiben für einen Studiengang eine Vielzahl von Festlegungen verbunden ist, die dann nicht mehr kontrovers diskutiert werden können. Und selbst wenn man ein recht homogenes Profil hat – wie etwa die stark empirisch-analytisch ausgerichteten Institute in Köln, Mannheim oder Bamberg – gibt es immer noch die Möglichkeit zum Master den Studienort und das Profil zu wechseln oder eben genau die wissenschaftlichen und beruflichen Potentiale dieser Richtung zu nutzen.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Unabhängig von allen Differenzen ist es wichtig, eine Politisierung von Fachgremien, etwa innerhalb der Deutschen Forschungsgemeinschaft oder auch innerhalb von Herausgebergremien von Zeitschriften, zu vermeiden. Auch sollten die Spitzen beider Fachverbände klar Stellung beziehen, dass im Kontext von Bewerbungsgesprächen, etwa auf Professuren, keine Nachfragen zur fachpolitischen Haltung gestellt werden sollten. Dafür gibt es zwar nur anekdotische Evidenz und häufig mögen solche Fragen auch als disziplininterner small talk gemeint gewesen sein. Gleichwohl bleibt es ein inhaltfremdes Kriterium, das aus solchen Kontexten ebenso herauszuhalten ist wie beispielsweise Fragen zum Familienstand. Dies in einer Erklärung deutlich zu machen, wäre vielleicht sogar ein sinnvolles gemeinsames Projekt beider Fachverbände.

Soll es im nächsten Jahr wieder einen soziologischen Aschermittwoch geben?

Es ist gut möglich, dass die Kölner Soziologie dieses Format weiter nutzt. Dann aber sicherlich zu ausgewählten inhaltlichen Themen, die gesellschaftlich oder politisch kontrovers diskutiert werden, und zu denen die Soziologie Wichtiges beizutragen hat.

Vielen Dank für das Interview!