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WiSo Special: Leonie Diffené

Ostasiatische Mythen, spirituelle Praxis und das Zusammentreffen von Chuck Norris und Bruce Lee: Der Begriff „Karate“ weckt bei vielen Menschen geradezu mystische Assoziationen. Ferner von diesen Stereotypen könnte kaum jemand sein als Vize-Weltmeisterin und WiSo-Doktorandin Leonie Diffené.

Leonie Diffené schafft als Leistungssportlerin nicht nur den Spagat zwischen beruflichem und Trainings-Alltag, sondern brilliert auch gleichsam in beiden Bereichen. Parallel zu ihrer Forschung im Bereich Demographie und soziale Ungleichheit setzte sie sich bei der Weltmeisterschaft im vergangenen Oktober durch. Gegen eine Vielzahl von Konkurrent:innen gewann Leonie Diffené gemeinsam mit ihrem Team den Vize-Weltmeister:innentitel im Bereich „Kata“.

Um diesen Erfolg richtig einordnen zu können, hilft ein Sprung in die Geschichte: Die Wurzeln des Karate – übersetzt „leere Hand“ – liegen in Okinawa, einer japanischen Präfektur aus über 150 einzelnen Inseln im ost-chinesischen Meer. Okinawa unterhielt bereits im 14. Jahrhundert als Zentrum des unabhängigen Inselkönigreichs Ryukyu rege Handelskontakte zu China. Dadurch gelangten erste Einflüsse der chinesischen Kampfkunst Kung Fu auf die Inseln. Über die Zeit wurden diese von den Ryūkyūjin zu eigenen Techniken und Stilen entwickelt wurden.

Durch seinen wirtschaftlichen Wert war Okinawa lange Schauplatz von Unruhen und Aufständen, was 1422 zu einem Waffenverbot führte. Dieses Verbot wurde nach der Annexion des Königreichs durch Japan 1609 verschärft, sodass sich die Einwohner Okinawas auf die waffenlose Verteidigung konzentrierten. Um gegen mögliche Angriffe gerüstet zu sein, trainierten die Einwohner den waffenlosen Nahkampf. Techniken und Taktiken aufzuschreiben war in der konfliktgeprägten Situation heikel, könnte doch alles in Feindeshände fallen oder verloren gehen. Also hielten die Bewohner ihre Techniken und Technikfolgen in choreographierten Abfolgen von Bewegungen, den sogenannten „Kata“ (wörtlich übersetzt „eine Reihe von festgelegten Bewegungen“), fest. 

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts machten einige Okinawa-Meister ihre Kampfkunst in Japan bekannt. Gichin Funakoshi trug dann maßgeblich dazu bei, Karate als sportliche Disziplin zu etablieren, indem er die Vereinheitlichung und Systematisierung der Regeln vorantrieb. Nach dem zweiten Weltkrieg verbreitete sich Karate als Sport weiter, bis zu seiner Aufnahme 1964 als offizielle Disziplin in internationalen Sportverbänden. Es folgte die Formierung internationaler Karate-Verbände, wie der World Karate Federation (WKF) und der Japan Karate Association (JKA). 2020 nahm das Internationale Olympische Komitee Karate ins Programm der Olympischen Spiele in Tokio auf. 

Das heutige Karate basiert auf drei Grundpfeilern: Kihon („Grundschule“; Techniken und Techniktraining), Kata (choreografierte Bewegungsabläufe ohne Gegner) und Kumite (Kampf mit dem Gegner). Kata und Kumite werden in Wettkampfform bei Turnieren ausgetragen.

In der Kata ist Leonie Diffené zuhause! Begann die gebürtige Magdeburgerin ihre sportliche Laufbahn im Kindesalter mit noch mit Turnen, wollte sie bereits im Alter von sechs Jahren etwas Neues ausprobieren. Ihre Mutter hörte sich um und fand Karate. „Meine Mutter erzählt bis heute, dass ich immer leuchtende Augen bekommen habe, wenn es zum Karate ging.“, erzählt die 27-jährige.

Bis zum Abitur trainiert Diffené in ihrem Heimatverein und wird Junioren-Europameisterin im Bereich Kata. Dabei bleibt sie dem Karate durchweg treu. Zwischendurch spielt sie zudem Fußball, entscheidet sich dann aber aufgrund der doppelten Belastung weiter für Karate.

Jede:r Karateka wird am Anfang in allen drei Grundbereichen ausgebildet. Erst später folgt im Leistungsbereich eine Spezialisierung auf Kata oder Kumite. Die Entscheidung fiel bei Diffené zugunsten von Kata, da sich dort schneller Fortschritte einstellten und ihr Kata als Disziplin mehr Freude bereitet hat. Wir haben Leonie Diffené beim Training besucht. 

Montagabend, draußen regnet es. Wir betreten eine trist-grün-braun gestrichene Mehrzweckhalle in Troisdorf. Kaum jemand würde vermuten, dass diese Halle die Schmiede einer amtierende Vize-Weltmeisterin ist. 

Leonie Diffené ist die Erste in der Halle, wärmt sich mit einem Springseil auf, bevor nach und nach andere Karateka eintrudeln. Zuerst Stefan Gerdesmeyer, Trainer des Vereins „Karate Dojo Ochi Troisdorf“. Die Stimmung ist heiter; zunächst plaudert er mit Diffené über ihren Wettkampfverlauf am vergangenen Wochenende. Dann machen sich beide gemeinsam mit den ersten Trainierenden daran, etwas Farbe in die Halle zu bringen und legen leuchtend rote und blaue Matten auf den harten Hallenboden. Während alle damit beschäftigt sind, aus den einzelnen Matten ein Quadrat von 10 x 10 Metern aneinander zu puzzeln, verrät Diffené mir: „Das sind die Matten, auf denen ich auch im Wettkampf antrete. Ich trainiere dann hier Kata auf den Matten, alle anderen trainieren drüben Kumite.“

Nachdem alle Matten ausgelegt sind, beginnt Diffené ihr Training für sich allein, während in der anderen Hälfte der Halle alle anderen mit einem Partner trainieren. Immer wieder geht sie einzelne Bewegungen durch, anschließend einzelne Sequenzen ihrer Wettkampf-Katas. 

Die Kata, die sie für Finalrunden vorbereitet, heißt Gojushiho Dai – übersetzt: „54 Schritte“. In dieser Einheit macht Diffené definitiv mehr als 54 Schritte. Immer wieder, fast schon maschinell, geht sie wieder und wieder dieselben Bewegungen durch.

Neben ihren Vereinskolleg:innen, die immer wieder Schläge tauschen, könnte dem ungeübten Auge der Eindruck vermittelt werden, dass Kata „ja gar kein richtiges Kämpfen“ ist – ein sich hartnäckig haltendes Vorurteil. Denn kämpft man vielleicht bei einer Kata nicht mit einem physischen Gegner, so doch immer mit sich selbst. „Man strebt nach Perfektion, obwohl man weiß, dass man sie nie erreicht. Aber das Streben nach stetiger Verbesserung treibt einen auch an. Ich bin dann im Flow. Ich vergesse alles um mich herum. Es gibt nichts Schöneres, als zwei Stunden zu trainieren und in der Zeit an nichts anderes zu denken.“, fasst Leonie Diffené zusammen.

Ihr hartnäckiges Streben nach Perfektion soll sich dann im Oktober 2024 auszahlen, als Diffené gemeinsam mit zwei Teamkolleginnen für Deutschland den Vize-Weltmeistertitel erkämpft. Denn die Disziplin Kata existiert nicht nur als Einzel-, sondern auch als Teamkategorie. Jeweils drei Mitglieder pro Mannschaft stehen dabei gemeinsam auf der Matte und versuchen möglichst synchron dieselbe Kata zu präsentieren.

Da die letzte Weltmeisterschaft pandemiebedingt vor sieben Jahren stattgefunden hatte, wurde die bevorstehende Meisterschaft mit großer Spannung erwartet. „Die Vorbereitung auf dieses Event war wirklich enorm und dabei sind wir drei als Team auch noch einmal richtig zusammengewachsen“, so Leonie Diffené. Schließlich konnten sie sich hinter den Japanerinnen die Silbermedaille sichern. Ein herausragender Erfolg, wie auch Leonie Diffenés Einschätzung verdeutlicht: „Die Japaner:innen gewinnen eigentlich immer und es ist fast eine Sensation, wenn sie doch mal verlieren. Deshalb fühlt sich der zweite Platz wie der erste an – wenn man Japan ausklammert.“

Die Wettkampfhalle im knapp drei Stunden nordöstlich von Tokio gelegenen Takasaki war für Diffené keine unbekannte Variable an ihrem Wettkampftag. Denn schon in den letzten beiden Jahren konnte sie sich bei zwei Aufenthalten in Japan mit den Gegebenheiten vor Ort vertraut machen und mit ihren japanischen Kolleg:innen und Vorbildern mittrainieren. „Man orientiert sich immer schon am Karate der Japaner:innen. Ich habe auf YouTube immer Videos von vergangenen und amtierenden Weltmeister:innen geschaut. Und dann konnte ich mit ihnen trainieren. Das war ein kleiner Traum, der da in Erfüllung gegangen ist.“, schwärmt sie. 

Dazu, dass dieser Traum in Erfüllung gehen konnte, hat auch die Flexibilität beigetragen, die Diffené in ihrer Promotion hat. Nach dem Abitur war für sie klar, dass Köln durch die Nähe zum renommierten Verein in Troisdorf ein idealer Standort für ihre sportliche Laufbahn ist. Darüber hinaus schätzte sie von Beginn an die WiSo als führend im Bereich Soziologie und damit auch die Qualität der Ausbildung, die sie hier erhalten würde. 

Nach ihrem Bachelor in Sozialwissenschaften schloss sie den Doppelmaster „Demography and Social Inequality“ an, arbeitete anschließend am Lehrstuhl von Professor Leopold und forschte in dessen KINMATRIX-Projekt zu familienbezogenen Daten aus Europa und den USA. Durch ihre Tätigkeit fand sie schnell den Austausch mit Promovierenden und konnte sich ein Bild davon machen, ob eine Promotion auch zu ihr passt. Dank der exzellenten fachlichen Betreuung und Kolleg:innen, die sie in ihren sportlichen Bestrebungen unterstützten, fiel ihre Entscheidung schließlich zugunsten der Promotion an der WiSo. 

Zudem bietet ihr das Stipendium der Kölner Graduiertenschule die nötige Flexibilität, um ihre akademischen und sportlichen Ambitionen erfolgreich zu vereinbaren. 

Inhaltlich forscht sie in ihrer Promotion zu familiären Netzwerken und Beziehungen, vor allem von Menschen mit Migrationshintergrund. Im Sommer wird sie sich dann im Rahmen eines viermonatigen Forschungsaufenthaltes an der University of Tokyo verstärkt mit den Einstellungen zur Immigration beschäftigen und dabei einen Vergleich zwischen dem europäischen und japanischen Kontext anstellen. Diesen Forschungsaufenthalt wird sie natürlich auch nutzen, um in Japan fleißig Karate zu trainieren. 

Nicht nur logistisch verknüpft Leonie Diffené ihre berufliche Laufbahn mit ihrer sportlichen Karriere. Auch strukturell findet sie Überschneidungen von Promotion und Karate. In beiden Bereichen beschäftigt sie sich tiefgehend mit einem bestimmten Thema, bleibt beharrlich, akribisch und investiert viel Zeit. Und das Streben nach Perfektion ist oft ein ständiger Begleiter. Ein weiterer Aspekt ist das ständige Lernen. Dazu sagt Diffené: „Je mehr man lernt, desto mehr lernt man auch, was man nicht kann. Aber das ist auch das Schöne. Es hört nie auf.“

Ein Vorteil beim stetigen Lernen ist auch, dass sich damit immer wieder neue Ziele auftun – und von denen hat Diffené aktuell noch genug. Neben dem Abschluss ihrer Promotion mit hoffentlich anschließendem Post-Doc im Bereich Migration steht für sie demnächst die Deutsche Meisterschaft und Europameisterschaft an. Das gesteckte Ziel ist klar: das Erreichen des Podests, sowohl einzeln als auch mit dem Team. 

Auch langfristig sieht sich Leonie Diffené mit ihrem Sport verbunden, dann hoffentlich als Trainerin. Ab und an gibt sie heute schon die ein oder andere Trainingseinheit oder je nach Zeitplan auch mal einen Lehrgang. Besonders wenn sie merkt, wie sich junge Mädchen an ihr orientieren, bietet ihr das viel Motivation, auch weiterhin als verantwortungsvolles Vorbild zu fungieren. „Wenn man weiß und sieht, was möglich ist, eröffnet das einem selbst einen neuen Horizont.“, sagt sie. 

Wir wünschen Leonie Diffené weiterhin alles Gute, beim Eröffnen weiterer eigener Horizonte, ob an der WiSo, in Tokio, im akademischen und auch im sportlichen Sinne!

 

Text und Fotos: Lorraine Hoffmann

Social-Media-Kanäle der WiSo-Fakultät

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