Wieviel Trinkgeld nach einem Restaurantbesuch angemessen ist, wissen wir normalerweise, ohne weiter darüber nachzudenken. Nahezu selbstverständlich bieten die meisten von uns Älteren auch ihren Sitzplatz in der Bahn an. Solche Mechanismen werden von sozialen Normen gesteuert, ohne dass sie schriftlich festgehalten wurden. Soziale Normen legen Regeln für unser alltägliches Verhalten im Austausch mit anderen Mitgliedern der Gesellschaft fest. Die meisten Menschen erkennen soziale Normen als allgemeingültige Regeln an und Verhalten sich dementsprechend. Für das soziale Zusammenleben sind diese Regeln sinnvoll, aber welche Rolle spielen solche Werte in einem ökonomischen Kontext?
Dr. Felix Kölle (Universität zu Köln, Department of Economics) und sein Kollege Simone Quercia (University of Verona) haben genau das untersucht. Im Discussion Paper No. 099, des Exzellenzclusters ECONtribute, wurde ihr Beitrag „The influence of empirical and normative expectations for cooperative behavior” im Juni 2021 veröffentlicht.*1 Dabei unterscheiden sie zunächst zwischen normativen und empirischen Erwartungen. Normative Erwartungen beziehen sich in diesem Kontext auf die Erwartung an das Glaubenssystem anderer, oder vereinfacht gesagt, auf die bei den anderen erwarteten Moral- und Normvorstellungen wie man sich verhalten sollte. Empirische Erwartungen hingegen bezeichnen Erfahrungswerte über das tatsächliche Verhalten anderer, die wir selbst gesammelt haben. Eine empirische Erwartungshaltung ist es etwa, zu wissen, dass die meisten Menschen sich an Normen halten, jedoch nicht alle.
Für Ihre Studie führten Felix Kölle und Simone Quercia zwei Experimente durch. In einem entscheiden die Proband:innen wieviel Ihres Gesamtvermögens (20 Tokens) sie zu einem Gemeinschaftsprojekt beisteuern wollen und wieviel sie für sich selbst behalten wollen. Beiträge zum Gemeinschaftsprojekt stellen dabei kooperatives Verhalten dar, wohingegen selbst einbehaltenen Beträge egoistisches Verhalten darstellen. In einem zweiten Experiment wird eine andere Gruppe befragt, was sie glauben, wieviel die Teilnehmer:innen beisteuern werden und für wie moralisch angemessen sie jede Entscheidungsmöglichkeit bewerten.
Das übereinstimmende Ergebnis: Die Proband:innen des ersten Experiments zeigen ein starkes Verlangen danach ihre Beiträge an die der Anderen anzupassen. Während circa ein Viertel der Proband:innen sich komplett egoistisch verhält, so verhält sich die große Mehrheit (drei Viertel der Proband:innen) bedingt kooperativ, d.h. sie sind bereit zu kooperieren aber nur wenn andere dies auch tun. Das Verhaltensmuster der bedingten Kooperation wurde dabei übereinstimmend auch von der zweiten Gruppe als das passendste soziale Verhalten wahrgenommen. Darüber hinaus zeigen die Ergebnisse, dass von der Mehrheit der Leute auch erwartet wird sich an diese soziale Norm zu halten. Empirische Erwartungen folgen also stark unseren erlernten normativen Vorgaben.
Im Gegensatz zu bisherigen Ansätzen, die häufig nur normative Erwartungshaltungen isoliert betrachteten, konnten Dr. Felix Kölle und Simone Quercia in der Kombination beider Experimente das Zusammenwirken und den gemeinsamen Einfluss von empirischen und normativen Erwartungen auf kooperatives Verhalten untersuchen.
Die Ergebnisse der Studie deuten darauf hin, dass also auch in ökonomischen Kontexten Normen und Erwartungen eine elementare Rolle spielen und somit unsere Entscheidungsprozesse beeinflussen.
*1 Im Oktober 2021 wurde das Paper auch im Journal of Economic Behavior & Organization veröffentlicht.