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"Verlasst die ausgetretenen Pfade!"

Zweiter Teil unseres Interviews mit ILIAS-Erfinder Wolfgang Leidhold.

Wolfgang Leidhold in Großaufnahme

Erstaunlich, dass es ein Politikwissenschaftler ist, der die Plattform entwickelt hat, die heute weltweit an Universitäten der Onlinelehre ihre Basis gibt (und vielfach die Lehre während der Corona-Pandemie erst ermöglicht). Doch damit nicht genug: Wolfgang Leidhold, studierter Sozialwissenschaftler, Philosoph und Ostasienwissenschaftler ist nicht zuletzt auf künstlerischem Gebiet erfolgreich. So kann der ehemalige Schlieker-Schüler auf zahlreiche Beteiligungen an Gruppenausstellungen verweisen, unter anderem in Köln, Bochum und München ebenso wie auf Einzelausstellungen, nicht zuletzt im New Yorker Chelsea Art Museum. Kaum erstaunlich also, dass er auch zur Digitalisierung der Lehre eine differenzierte Haltung hat.

Zum  ersten Teil des Interviews mit  Prof. Dr. Leidhold: "Alle vollbrachten Pionierleistungen"

Lieber Herr Leidhold,
Plattformen wie ILIAS haben es vielen Lehreinrichtungen (Schulen und Hochschulen) überhaupt erst möglich gemacht, in Zeiten der Pandemie eine Form von normaler Lehre wiederherzustellen. Glauben Sie auf dieser Basis, dass die Corona-Pandemie einen nachhaltigen Einfluss auf die Digitalisierung der Lehre haben kann bzw. haben wird?

Wolfgang Leidhold: Uns war schon vor 25 Jahren klar, dass die Digitalisierung einen gesellschaftlichen Umbruch einleitet. Gut, dass wir diese Dinge heute schon haben, und nicht erst jetzt anfangen müssen, netzbasierte Lernsoftware zu entwickeln.

Wie halten Sie es persönlich, war Ihnen die Digitalisierung der Lehre schon vor Corona wichtig?

Wolfgang Leidhold: Mich hat die Digitalisierung von Anbeginn fasziniert. In den achtziger Jahren habe ich daher Unix und Fortran 77 gelernt, und mich mit den Grundlagen der Programmierung beschäftigt. An meiner Erlanger Fakultät war ich der erste, der einen Computer besaß, erst einen Atari 520ST, dann einen Apple Mac IIc. Darauf habe ich meine Habilitation geschrieben.

Welche Vorteile und welche Nachteile sehen Sie in der Digitalisierung der Lehre?

Wolfgang Leidhold: Die digitalen Instrumente sind ein Hilfsmittel unter vielen, etwa dem Buch und dem Notizblock. Gegenüber dem Buch haben die digitalen Instrumente eine viel größere Reichweite, sie sind kostengünstig, wir kommunizieren und kooperieren global. Durch den flachen Bildschirm bewegt man sich aber in einer Scheibenwelt: Nähe und Ferne spielen keine Rolle. Alles ist sofort präsent. In der digitalen Scheibenwelt verkümmert daher auf die Dauer unsere Erfahrung. Der Mensch ist ein soziales Lebewesen in Raum und Zeit. Dafür haben wir unsere Sinne, Gefühle, Empathie, Vernunft und Ordnungssinn. Erst die Ordnung in Raum und Zeit stiftet Sinn und Prioritäten.

Wie würden Sie ein optimales Verhältnis von Präsenzlehre und digitaler Lehre einstufen?

Wolfgang Leidhold: Der direkte Kontakt von Mensch zu Mensch ist durch nichts zu ersetzen. Das ist das Feedback, das ich bis heute durchweg von Studentinnen und Studenten bekomme. Nach der Erfindung des modernen Buchdrucks ist auch niemand auf die Idee gekommen, Schulen und Universitäten abzuschaffen, nur weil man jetzt alles überall nachlesen konnte. So wie man früher Buch und Seminar verbunden hat, muss man auch heute Buch, digitale Medien und Präsenzlehre kombinieren. Kurz: Lehre in Präsenz, Lernen mit digitaler Unterstützung. Ich selbst beginne alle meine Forschungen online, wechsle zur Vertiefung auf Gedrucktes, und schreibe meine Entwürfe immer mit der Hand. Die Mischung macht's.

Viele Menschen haben Angst, vor der in allen Bereichen rasant fortschreitenden Digitalisierung und viele fühlen sich überfordert. Glauben Sie, die Politikwissenschaft kann in dieser Entwicklung eine entscheidende Rolle einnehmen und welche sollte sie einnehmen?

Wolfgang Leidhold: Angst ist ein schlechter Ratgeber. Man sollte Herausforderungen immer offen und kreativ begegnen. Wir sollten die Menschen ermutigen, sich zu bilden, keine Angst vor dem eigenen Urteil zu haben und neue Wege zu gehen. Eine recht verstandene Politikwissenschaft atmet den gleichen Geist, ist zukunftsoffen, unabhängig, problemorientiert. Politik ist von Natur aus eine kreative Tätigkeit. Ich schätze hier besonders die Politikwissenschaftlerin Hannah Arendt und ihr Buch über die Vita Activa — Vom tätigen Leben. Ihr werde ich mein nächstes Seminar widmen.

Ihnen ist es gelungen, erfolgreiche Tätigkeiten als Politikwissenschaftler und als Künstler „unter einen Hut“ zu bekommen. Können Sie kurz für uns einen Bogen schlagen, wie sich die beiden Bereiche in Ihrem Leben integrieren vielleicht im Hinblick darauf, wie sich der plurale Erfahrungsbegriff in Ihren Werken niederschlägt?

Wolfgang Leidhold: Das möchte ich mit dem Motto von meiner Instagram-Seite @leidholdart beantworten: Open your eyes. Open your mind. Exploring time & space & the great narratives: that's my art. Das Motto gilt genauso auch für meine Wissenschaft. Und beide Seiten befruchten sich wechselseitig.

Der Mensch ist ein Wesen, das in vielen Erfahrungsdimensionen an der Wirklichkeit teilnimmt. Wenn man die Idee des offenen Geistes und der offenen Gesellschaft ernst nimmt, ist es wichtig, alle diese Dimensionen aktiv zu nutzen. Wer seinen Geist in und mit der Kunst öffnet, öffnet auch seinen Geist in der Wissenschaft — denn es ist ja immer ein und derselbe Geist. Diese Zusammenhänge habe ich in meinem jüngsten Buch über The History of Experience behandelt, dass in Kürze bei der McGill University Press erscheint.

 Wenn Sie Studierenden einen Rat mit auf den Weg geben könnten, gerade in der jetzigen Zeit, welcher wäre das?
Ich rate das gleiche, was meine Mentoren auch schon mir geraten haben: Macht die Dinge, die euch Freude bereiten. Verlasst die ausgetretenen Pfade. Und habt keine Angst — vor nix und niemand!

zum ersten Teil des Interviews mit Prof. Dr. Wolfgang Leidhold: "Alle vollbrachten Pionierleistungen"